Die europäischen Strommärkte gerieten mit rasant steigenden Energiekosten und eskalierenden geopolitischen Streitereien in die Schlagzeilen, während im Vereinigten Königreich täglich Energieversorger auf dem Endkundenmarkt Insolvenz anmelden. Die europäischen Strompreise sind gegenüber den Niveaus vom Januar 2021 um 100% gestiegen, angetrieben von Gas. Die niederländischen Gaspreise, die oft als stellvertretend für die europäischen Gaspreise herangezogen werden, stiegen seit Jahresbeginn um 150%1, Kohle um 76% und CO2-Gutschriften (in Kohlendioxidäquivalenten) um 80%.
In die Höhe schnellende Energierechnungen können Privathaushalte hart treffen in einer Zeit, in der die Finanzen vieler Leute aufgrund der Dominoeffekte der COVID-19-Pandemie bereits unter Druck stehen.
Also, was geschieht da genau?
Steigende Nachfrage
Es herrscht zurzeit eine stärkere weltweite Nachfrage nach Gas als gewöhnlich, doch die europäischen Gasvorräte sind für die Jahreszeit ungewöhnlich gering, insbesondere in Deutschland. Dies ist auf unerwartet kälteres Wetter, geringe Windgeschwindigkeiten und Ausfälle bei konventionellen Stromerzeugungskapazitäten zurückzuführen. Daher war Europa einfach nicht in der Lage, seine Gasvorräte aufzufüllen, die zurzeit bei 72% gegenüber 94% im Vorjahr und einem Zehnjahresdurchschnitt von etwa 85% liegen2 . Hinzu kommt, dass aufgrund schlechterer Bedingungen für Wasserkraft in Lateinamerika ein Teil des Angebots an Flüssiggas (LNG) auf diesen Markt umgeleitet wurde, während Asien Europa und das Vereinigte Königreich bei LNG überbietet, insbesondere nach der jüngsten Anweisung an Staatsunternehmen in China, Brennstoffe „um jeden Preis“ zu bevorraten . Gasströme durch NordStream 2, die Gasexport-Pipeline von Russland durch die Ostsee nach Europa, könnten Druck von den Erdgaspreisen nehmen, was aber mit zusätzlichen geopolitischen Konsequenzen verbunden wäre.
Eine unglückliche Verquickung verschiedener Faktoren
Viele verweisen auf den innerhalb von zwei Jahren von 10 EUR auf 60 EUR gestiegenen CO2-Preis als einen wesentlichen Faktor für steigende Preise, aber CO2 macht weniger als 10% auf der Stromrechnung des Endverbrauchers aus. Die Netto-Null-Ziele der EU bedeuten, dass die CO2-Bepreisung bleiben wird und nach Schätzungen der Weltbank noch auf 100 EUR angehoben werden müsste. Wenngleich er also eine große Wirkung auf die Industrie hat und Posten wie Flugkosten in die Höhe treiben könnte, sehen wir den CO2-Preis nicht als eine bedeutende Triebkraft für die Energierechnungen der Endverbraucher. Ebenso wenig kann man die Kosten für den Ausbau von erneuerbare Energien verantwortlich machen. Erneuerbare sind mittlerweile in vielen Fällen die billigste Form neuer Stromerzeugungskapazitäten; es sind keine großen Subventionsbeträge mehr erforderlich, und Altkosten werden allmählich auslaufen.
Der tatsächliche Grund ist eine unglückliche Verquickung von Faktoren. CO2-Bepreisung und Kosten für Erneuerbare wären für sich genommen nicht erwähnenswert, aber sie gingen mit steigenden Rohstoffpreisen einher, mit Störungen der Lieferketten bei Exploration und Produktion fossiler Brennstoffe aufgrund der Pandemie, mit mehr geplanten und ungeplanten Ausfällen, zum Teil aufgrund von durch die Pandemie verursachten Verzögerungen, mit kaltem Wetter, mit Rekordtiefs bei den Mengen von Wind und Sonne, mit niedrigen Niveaus der Gasvorräte, insbesondere im Vereinigten Königreich und mit geopolitischen Ereignissen, darunter der Brexit und die Beziehungen Europas zu Russland. All das hat in Verbindung mit einem dramatischen Anstieg der Nachfrage nach Rohstoffen nach der Coronakrise zu steigenden Öl-, Gas- und Kohlepreisen geführt. Diese Entwicklungen der Rohstoffpreise sind die primäre Triebkraft für die Strompreisanstiege – für Verbraucher und Unternehmen gleichermaßen.
Höhere Strompreise werden die Rechnungen für Verbraucher in die Höhe treiben
Im Vereinigten Königreich laufen Versorger, die sich nicht gegen steigende Preise abgesichert haben, Gefahr, dass sie es sich nicht mehr leisten können, Strom oder Gas zu kaufen, um ihre Kunden zu bedienen. Es sei darauf hingewiesen, dass die Mehrheit der Versorger Strom oder Gas nicht selbst produziert und sie einkaufen muss. Zwölf Versorger, die etwa 20% aller Versorger im Vereinigten Königreich ausmachen und von denen über zwei Millionen Kunden abhängen, haben bereits Insolvenz angemeldet, und es werden voraussichtlich noch mehr werden. Die Sorge in der Branche im Vereinigten Königreich ist bereits so groß, dass die Aufsichtsbehörde Ofgem kürzlich eine spezielle Verwaltungsstelle eingesetzt hat, die sich mit möglichen Ausfällen größerer Versorger befasst.
Erschwinglichkeit für den Kunden
Entgegen unseren anfänglichen Erwartungen scheinen Regierungen und Aufsichtsbehörden in der gesamten EU – mit Ausnahme von Spanien und dem Vereinigten Königreich – vernünftige Maßnahmen in Erwägung zu ziehen, um kurzfristige markante Anstiege ihrer Strom- und Gasrechnungen in Grenzen zu halten. Ein Stück im Tortendiagramm der Kundenrechnung entfällt normalerweise auf staatliche Abgaben und Aufschläge für Erneuerbare (in Deutschland macht die Erneuerbare-Energien-Umlage beispielsweise 22% der durchschnittlichen Rechnung eines Privathaushalts aus). Diese Abgaben und Steuern können in großen europäischen Ländern bis zu 40% der Rechnung des Endverbrauchers ausmachen4.
Zu den Optionen, die Aufsichtsbehörden in Erwägung ziehen, gehören das vorübergehende Einfrieren der Tarife, die Reduzierung dieser Abgaben oder Steuern oder die Finanzierung dieser politikbedingten Kosten mit staatlichen Mitteln. Weitere Optionen sind die Streichung von Systemgebühren, steuerliche Absetzbarkeit, Rabatte und verschiedene Formen der direkten Unterstützung von bedürftigen Kunden. In Frankreich und Portugal werden Kunden durch regulierte oder feste Einspeisetarife geschützt. Spanien hatte ursprünglich eine Sondergewinnsteuer für Erzeuger von Kern- und Wasserkraft eingeführt, hat sie aber nach konstruktiven Gesprächen mit den spanischen Versorgungsunternehmen mittlerweile wieder abgeschafft. Diese durchaus gut gemeinte Sondergewinnsteuer sollte unbeabsichtigte Gewinne für emissionsfreie Stromerzeuger zurückfordern, ohne dabei zu berücksichtigen, dass die meisten Erzeuger für mehrere Jahre festgeschriebene Preise haben und diese Gewinne daher gar nicht vereinnahmen würden und dass die Bestrafung emissionsfreier Erzeuger nicht zur Förderung weiterer Investitionen in die Energiewende führen würde
Die EU hat nun ein sinnvolles Instrumentarium eingeführt, das eine Reihe von Optionen enthält, die Mitgliedstaaten ermöglichen, schnell auf Preissteigerungen zu reagieren und dabei die Vorgaben der EU einzuhalten.
Wenig Wind und Sonne
Ein Haken bei erneuerbaren Energien ist die Tatsache, dass der Wind nicht immer weht und die Sonne nicht immer scheint. In den vergangenen drei Monaten war der Wind weltweit nicht besonders stark und verzeichnete im Vereinigten Königreich sein schwächstes Niveau seit 70 Jahren. Doch an diesen Problemen kann man arbeiten, und darin sind wir im Laufe der Jahre immer besser geworden. Zu den Fortschritten gehören insbesondere: Investitionen in das Stromnetz; die Nutzung von Wasserkraftspeichern, d. h. Füllen von Reservoiren; stärkere Nutzung von Batteriespeichern, wenn auch nur über kürzere Zeiträume; Nutzung von Verbundleitungen, um Strom von unseren Nachbarn auszuleihen; und Nutzung von Gas als Reserve. Glücklicherweise betreiben einige Länder stabile Stromversorgungssysteme, in denen die emissionsfreie Erzeugung ohne Probleme über 75% des Stroms ausmacht. Doch im Vereinigten Königreich machen erneuerbare Energien im Durchschnitt nur 30% der Stromerzeugung im Jahr aus. Das ist eigentlich kein großes Problem, verursachte aber im Zusammenspiel mit den oben erwähnten Faktoren Schwierigkeiten.
Geopolitik
Gasanbieter wie Russland profitieren von höheren Preisen, da sie hierdurch höhere Erlöse erzielen. So wurde hinterfragt, ob die Preise manipuliert sein könnten – nicht nur, um Druck auf Europa auszuüben, weiter Gas zu nutzen, sondern ganz konkret auch, um die Genehmigung von Nordstream 2 zu beschleunigen, da Deutschland sich mit dem grünen Licht für neue große Versorgungstrasse noch zurückhält. Nordstream 2 wird für Russland unverkennbar eine bedeutende Erlösquelle sein, aber sie wird dem Land auch eine größere Verhandlungsmacht in der Region verschaffen, insbesondere im Hinblick auf die Möglichkeit, die Ukraine unter Druck zu setzen.
Neugestaltung des EU-Strommarktes
Die EU wird Ende Oktober tagen, um eine Neugestaltung des Großhandelsmarktes für Strom der Region zu diskutieren. Der zurzeit bestehende Ausgleichsmechanismus wurde umgestaltet, um sicherzustellen, dass die Strompreise an einen Grenzwert gekoppelt sind, der die Produktionskosten widerspiegelt, zu denen das Clearing von Angebot und Nachfrage von Strom erfolgt. Hierdurch wird jedoch nicht zwangsläufig der kostengünstigste Erzeuger belohnt. Aufgrund des Zusammenspiels mehrerer Faktoren, wie Effizienz und Flexibilität des Kraftwerks (was in der Regel für Gas spricht) sowie das Verhalten der Marktteilnehmer, wird der Preis letztendlich auf Gas abgestimmt. Mit Gas wird nur 20% des in Europa benötigten Stroms erzeugt; es bildet aber während 75% der Zeit den Grenzwert5.
Frankreich fordert, dass langfristige Stromverträge oder -tarife an die Durchschnittskosten für die Stromerzeugung in jedem Mitgliedstaat gekoppelt werden, sowie eine Entkopplung vom Gaspreis (oder dem Preis eines anderen Brennstoffs) in diesem Prozess. Die EU prüft auch Möglichkeiten, den spekulativen Handel auf den Energiemärkten einzudämmen, eine strategische Gasreserve aufzubauen oder Gas auf EU-Ebene einzukaufen, statt einzelnen Mitgliedstaaten zu gestatten, ihre Versorgung unabhängig sicherzustellen. Eine in Frage kommende Option könnte ein Kapazitätsmarkt sein oder die Kopplung der Preise an den Kapitalwert der Erzeugungskosten, die bei der Erzeugung einer bestimmten Energieeinheit anfallen, auch Stromgestehungskosten genannt.
Wie sieht es mit Öl aus?
Es ist leichter für Unternehmen, Investitionen in neue Ölproduktionskapazitäten zu stoppen, als für den Verbraucher, seinen Verbrauch von Öl einzustellen, insbesondere weil Alternativen zurzeit erheblich teurer sein können. Trotz der laufenden Bemühungen um einen Übergang weg vom Öl wird die weltweite Ölnachfrage Prognosen zufolge erst irgendwann in der Zeit zwischen den kommenden fünf bis fünfzehn Jahren ihren Spitzenwert erreichen, bevor die Umstellung auf sauberere Brennstoffe den wachsenden Bedarf von Industrie und Verbrauchern ausgleicht, insbesondere in den Schwellenländern.
Die IEA rechnet damit, dass die Nachfrage schon 2025 zurückgehen wird. Wir denken jedoch eher daran, wie langsam sich Verbrauchertrends ändern, welche Bedeutung Kosten und der Bedarf an Innovation für Unternehmen haben, sowie an die Hürden für die aufsichtsrechtliche Durchsetzung und sehen daher das Risiko, dass der Bedarf „länger höher“ sein wird. Wenn die private Ölindustrie, die für fast 50% der weltweiten Ölproduktion steht (während die anderen 50% aus Staaten wie Saudi-Arabien stammen), durch Zwangsmaßnahmen davon abgehalten würde, in die Aufstockung des Angebots zu investieren, könnte die Produktion um 4% pro Jahr zurückgehen. Diese Diskrepanz wird zu einer bedeutenden Angebotsverknappung führen, die dann die Ölpreise zulasten aller in die Höhe treiben wird.
Was kann getan werden?
Die Verquickung von Faktoren ist unglücklich. Einige der Gründe sind einmaliger Natur, wie etwa COVID-19, während andere Faktoren sich als länger andauernd oder wiederkehrend erweisen können. Was kann letztendlich also getan werden, um Preisanstiege zu vermeiden?
- Erneuerbare ausbauen, und zwar so schnell, dass mit der Schließung von CO2-emittierenden Erzeugungsanlagen Schritt gehalten werden kann. Ein bedeutendes Hindernis sind Baugenehmigungen, da lokale Gemeinschaften erneuerbare Energien theoretisch zwar befürworten, sich aber weiterhin gegen Sichtbehinderungen wehren – das Sankt-Florian-Prinzip oder „nicht in meiner Nachbarschaft“.
- Erhöhen der Speicherkapazität für Gas und von Pumpspeicherkraftwerken, Investitionen in Verbundleitungen und Netzausgleich.
- Einen neuen Preismechanismus für Strom in Erwägung ziehen. Zurzeit wird der Strompreis in Europa vom Gas bestimmt. Dies war in der Vergangenheit durchaus sinnvoll, als Gas oder Kohle den deutlich größten Teil der Stromerzeugung ausmachten und damit für die Kosten des Systems repräsentativ waren. Doch mit der zunehmenden Bedeutung von erneuerbaren Energien wäre es sinnvoller, eine Kostenrechnung aus 80% Erneuerbaren mit 30-40 EUR/MWh und aus 20% Gas mit stark schwankenden 30-80 EUR/MWh zu haben, statt Letzteres den Preis für alles bestimmen zu lassen. In diesem Szenario sollte Schluss damit sein, dass der Schwanz mit dem Hund wedelt
Fazit
Alles in allem ist es eine Frage des Timings – Kosten können weiter steigen, bevor sie fallen. Wenngleich Gas und Öl zurzeit noch gebraucht werden, wird ihre Nutzung letztendlich zurückgehen.
Doch die derzeitigen Energieprobleme haben uns eine (grundsätzliche) Lektion gelehrt: Gas und Öl werden für den Übergang zu Netto-Null gebraucht.
Zudem zeigt diese Energiekrise auch, dass der Weg in Richtung Netto-Null holprig sein wird. Erneuerbare werden eine deflationäre Kraft im Stromsektor sein und damit eine Lösung für die derzeitige Krise und nicht das Problem sein. Doch der Übergang von einer übermäßigen Abhängigkeit von Gas beim Aufbau der erforderlichen Kapazitäten erneuerbarer Energien wird größere Anstrengungen, Investitionen sowie Unterstützung durch Politik und Regulierung erfordern.
Die langfristige Aussicht auf Netto-Null wird durch die Möglichkeit kurz- oder sogar mittelfristiger Preissteigerungen nicht aus der Bahn geworfen, und die Regierungen der EU und des Vereinigten Königreichs sind überzeugt, dass die Energiewende beschleunigt und nicht gebremst werden muss.